Seit Tagen ist der Himmel grau. Die Wolken hängen tief. Die Zweige an den Bäumen sind schwer mit Wassertropfen behängt und sind ausladend auf den Boden gerichtet. Das Wetter passt zu meiner Stimmung. Traurig und enttäuscht halte ich die Mitteilung in der Hand.
Erst vor Kurzem war sie wieder da. Die Hoffnung auf Besserung. Er, der sich für die Belange der Familie interessierte, mit allen Verwandten Kontakt hielt, besuchte mich. Es war kein offizieller Besuch, vielmehr war es sein Schatten. Ich erkannte seine Größe, die grau gewordenen, kurz gewellten Haare. Sein verschmitztes Grinsen im Gesicht fehlte diesmal. Sein Blick war auf mich gerichtet. Beim nächsten Augenaufschlag huscht die Gestalt an mir vorbei. War das wirklich mein Onkel? Der Kartoffelschäler fällt mir aus der Hand. Verwirrt schaue ich durch das Fenster in die grauen Wolken. Die Kartoffeln sind längst nicht geschält. Wenn ich weiter so trödele, wird das Mittagessen nicht fertig.
Ich bin mir sicher, seine liebevoll brauen Augen haben mich angeschaut. Seinen drahtigen Körper habe ich sofort erkannt. Mit seinen 1,90 m überragte er mich. Oft ist er mit dem Fahrrad von Korb nach Markgröningen gefahren. Dort habe ich ihn einmal nach Feierabend getroffen. Völlig überrascht, was er denn mit dem Fahrrad an diesem Ort tue, weit von Korb entfernt. Er lachte, Detlef sei umgezogen. Er will mal nach dem Rechten sehen. Aha, mein Vetter wohnt hier. Davon wusste ich gar nichts. Zum Abschied winke ich ihm. Leicht ist er auf sein Fahrrad gestiegen. Ob ich im Alter noch so mobil sein werde?
Unser Kontakt war zeitlebens auf die Sonntage begrenzt. Ein Besuch in Korb, wenn das für meine Mutter machbar war. Oder er kam zu uns. Zu den Festlichkeiten wie Konfirmationen oder Geburtstagen. Nun steht er in meiner Küche. Völlig unvorbereitet sehe ich den vermeintlichen Schatten durch das Fenster entschwinden. Die Wolken hängen tief genug. Im Grunde könnte er auf eine Wolke aufgestiegen sein, so als wollte er in einen Zug einsteigen. Ob er eine Fahrkarte dafür benötigt? Gibt es ein Ticket, das ich ziehen kann, wenn es so weit ist? Ich könnte mir vorstellen: Im grenzenlosen Raum mag es ein Ticketsystem geben. Einen geheimen Code…?
Aber wieso kommt mein Onkel zu mir? Er steht da, als wollte er sagen, du hättest auch mal vorbeikommen können. Ja. Das stimmt. Mein schlechtes Gewissen setzt mich sogleich unter Druck. Ausreden habe ich genug. Eine davon ist ein jahrelanger, zäher Kampf um die Renovierung, die scheinbar kein Ende nimmt. Ich spüre aufsteigende Tränen. Augenblicklich wird mir heiß. Ja, ich bin wütend auf mich. Wie kann ich es wagen, meinen Lieblingsonkel im Altenheim nicht zu besuchen? Und dann gab es diese Fahrt zum Tierarzt nach Münchingen. Ein paar Kilometer weit entfernt von Markgröningen. Da hätte ich gut bei ihm vorbeigehen können. Nur, was mache ich mit den Hunden? Im Auto lassen, gibt historisch gesehen mehr Probleme. Egal, wo ich parke, Menschen interessieren sich grundsätzlich für Tierschutz, vor allem in meinem Auto. Ich höre es schon, was für ein herzloser Mensch, nein, ein Tierschänder ich bin. Allein der Gedanke hat mich an Markgröningen vorbeifahren lassen. Mein Onkel hat einen Pflegeplatz in der Nähe seines Sohnes gewählt. An diesem Tag hätte ich meinen Onkel besuchen und meinen Vetter treffen können. Dann ereignet sich etwas völlig Neues. Meine Tante schickt mir eine Trauerkarte.
Meine Entscheidung, nicht im Altenheim vorbeizugehen, war richtig. Zu dieser Zeit hat mein Onkel schon zwei Wochen zuvor das Ticket ins Grenzenlose gezogen. Bei all seiner Liebe, hat er an mich gedacht. Zumindest in meinen Gedanken konnte ich mich von ihm verabschieden. War der Schatten in meiner Küche echt? Eigentlich will ich über die grenzenlose Energie nicht nachdenken. Ich fühle mich schuldig, weil ich den passenden Zeitpunkt für den Besuch verpasst habe. Energie, die mich streift, verursacht Unbehagen in mir.
Im Nachgang quält mich die Frage: Was hätte ich fragen können? Mein Onkel war zeitlebens ein rationaler Mensch. Zu Hirngespinsten, so wie sie mich in der Küche treffen, hätte er nur den Kopf geschüttelt. Warum ist er also in der Küche aufgetaucht? In jungen Jahren hat er viel Hunger gelitten. Vielleicht hätte ich ihm ein Essenspaket mitgeben oder zumindest anbieten können.
Viele Grüße
M. Melonte
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