Montag, 18. Mai 2015

Sehnsuchtsorte

Eingeschlossen hinter Gitterstäben sitzt er mit weit aufgerissenen Augen. Entfernt von der Welt. Die Süße des Lebens kann er noch fühlen.
Wo ist die Natur gefüllt mit Leben und Liebe? Der innere Ruf ist so viel lauter als die Vernunft. Scheinbar sind die Abenteuer vorbei. Was hätte er alles erreichen können? Eine Familie gründen! Jetzt ist alles aus.

Er singt nicht mehr. Vorbei sind die Augenblicke des Glücks und alles wegen dieser Sehnsucht. Getrieben von der Kraft, die alles ermöglicht. Unaufhaltsam die Lockrufe jeden Tag. Von morgens bis abends ist er aufmerksam gegenüber den anderen, die frei waren. Nur er nicht. Er sitzt hinter Gittern und wartet.
Bubi, der Barde

Ich genieße diese Beziehung. Unsere Verknüpfung zueinander ist einmalig, fast aus dem Nichts heraus bereitet diese Stimme stundenlang Vergnügen. Diese Tonlage trägt die Lieder weit hinaus. Die mit Schwermut unterlegte Melodie spricht eine klare Sprache.
Er ist nicht glücklich. Was ist schon Glück? Viele Weiber oder ein voller Magen? An manchen Tagen scheint die Nahrung einen entscheidenden Einfluss auf seine Stimmung zu haben. Er liebt Chicoree auf seine Weise, knabbert fast gierig an den Enden. Kurz entschlossen öffne ich den Käfig, will ihn streicheln, stehe ich nicht mehr nur davor. Greife in den Käfig und bringe ihn, Bubi und seine Begleiterin, Lilli untergeschoben in meinem T-Shirt in unseren „geschlossenen Sprechraum“. In der Familie nennen wir ihn so, weil dort die Geheimnisse besprochen werden. Dafür hängen wir jeweils eine Taschenlampe an den Türgriff. Sobald eine wichtige Unterredung stattfindet, kommt dann niemand mehr hinein.
Kaum im Raum drängen die zwei mit wildem Gezwitscher und Flügelschlagens davon. Auf gutes Zureden springt mir Lilli auf den Finger und gleich wieder weg. Bubi hingegen stellt sein Gefieder auf dem Kopf nach oben, als ob er einen Krieg vom Zaun bräche. Wie ein Indianer der seinen Schmuck aus Federn für alle sichtbar stolz trägt, seiner Autorität Nachdruck verleiht. In der Zwischenzeit putze ich den Käfig und bringe zuerst Lilli zurück. Kaum ist sie wieder im gewohnten Umfeld legt Bubi aus voller Kehle los und fleht herzerweichend nach Lilli. Ja, die zwei mögen sich sehr. Sie, eine mit orangenen Federn geschmückte Kanariendame und Bubi entstanden, aus einer Liebesnacht zwischen einem Kanarien und Stiglitz. Sie haben sich eingerichtet in der Gefangenschaft. Bekommen im Gegenzug allerlei Leckereien. Gerade will ich Bubi in den Käfig bringen, fliegt er an der Öffnung vorbei. Setzt sich auf den Schrank und überblickt das Zimmer. Entsetzen packt mich. Mein schlechtes Gewissen drückt, wieso meine Putzwut mal wieder mit mir durchgegangen ist. Aber im nächsten Augenblick beruhige ich mich wieder. Ein schön geputzter Raum vermittelt mir ein absolutes Wohlgefühl. Entspannung, Ruhe, eine Art Freiheit ergreift mich. Der Vogel soll sich nicht so anstellen. Sauberkeit ist eines meiner Sehnsuchtsorte, an denen ich mich verberge, sobald zuviel Lärm und Unordnung herrscht. Oder ist es die gesehnte Sucht und den Ort muss ich suchen? Ist es denn der Ort für meine Vögel? Am Ende ist es für die kleinen Lebewesen hinter Gitter eine Strafe, abgefüllt mit Essen, überlege ich. In China wird alles gegessen vom Vogelnest bis zum Vogel. Ein Schauer läuft mir den Rücken herunter. Essen? Nein.
Bubi vertreibt mir mit seinem Gesang Wolken, die der Alltag vorbei schickt. Wo würde ich mich auf dieser Welt hinsehnen? Raus in die Natur in die Berge mit einem See. An die Küste mit Sandstrand, an dem ich den Tag über relaxe und nichts tue. So empfinde ich den schönsten Ort  zu Hause, wenn die singende Belohnung einsetzt für den geputzten Käfig.

Gestern durften die beiden in ihrer Voliere in den Garten und standen auf einem Tisch. Derweil beobachten sie die anderen Vögel. Aus welchem Grund die Käfigtür aufsprang, vermag ich überhaupt nicht zu erkennen. Eine Zeitlang standen die zwei im Grünen bis Bubi, der Barde, die Lust auf Freiheit packte. Er flog an den Ort, an dem er glücklich werden wird. Vermutlich sein Sehnsuchtsort, der ihm die emotionale Nähe des Ungestörten zusichert. Es war ein bewegender Moment. Tränen kullerten mir über die Wangen. Mein „Superstar“ entschied 
von links: Lilli und Bubi

sich für das erhabene Loslassen. Lilli bleibt zurück. Für meine Sehnsuchtsorte müsste ich nur wollen, durchfährt mich ein Gedanke.

Herzliche Grüße
Lilli

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